Sonntag, 29. November 2015

WOZU – LYRIK?

Auszug aus dem Nachwort der Anthologie "INTIMITÄT / INTIMITATE"

Mircea Barnaure: Der Nachmensch...

Du schreibst mir Gedichte! … Du hast Probleme! Das ist mir zu viel Stress! – diese Fernsehfilmreplik zeigt ziemlich deutlich, dass das Internet-Zeitalter Lyrik nur als Marker von Verschrobenheit wahrnimmt und sonst ihrer nicht zu bedürfen meint.
Zugegeben: Dichter genossen nie einen besonders guten Ruf, der Nimbus des komischen Kauzes umhüllte seit eh und je ihr Haupt und wenn das Ungestüm-Unmittelbare ihrer Persönlichkeit einige auch faszinierte, so konnte diese Verzauberung doch nicht über der Normalsterblichen grundsätzliche Herablassung hinwegtäuschen: Genie? Was nützt es ihnen, wenn ihnen Lebenskraft fehlt, sie sich nicht durchsetzen können und im Elend enden? Der prosaische Geist, für den nur handfester Erfolg zählt, regiert eben seit Menschengedenken die Welt. Für ihn kann der Dichter nur ein Looser sein.
Freilich manchmal, in Aufbruch- oder Krisenzeiten, betrachtet man sie wohlwollender. Ihre Erzeugnisse wirken stärkend. Und tröstlich. So merkt man, dass man ihrer bedarf. Dann können sich Gedichtbände (wie Benns Lyrik) plötzlich auch hunderttausendfach verkaufen. Und Dichten kann zur auszeichnenden Gabe mutieren – so während meiner Schulzeit, in den 70er Jahren im kommunistischen Rumänien, als dichtenden Mitschülern der It-Faktor anhing. In solchen Zeiten lieben Völker ihre Dichter sehr.
Sonst lieben sie sie vor allem – wenn sie tot sind. Oh, wie dieser kleine, unglückliche Umstand Eifer und Verehrung schürt! Lorbeeren umkränzen die bleichen Stirnen, Titel werden erfunden (Nationaldichter und ähnliches Zeugs...), Denkmäler gebaut, Symposien organisiert und Schulkinder mit unsterblichen Versen gequält – alles den großen Verstorbenen zu Ehren. Man verwandelt sie in Heilige, ganz im Sinne des vaterländisch-kleinbürgerlichen Geschmacks.
Das ist sehr vorteilhaft: Völker können ihre Dichter nur zurechtgestutzt ertragen. Ist einer atheistisch und sinnlich, wie Eminescu1, so wird er kurzerhand für engelsgleich, rein, bedürfnislos erklärt: ein Wesen von ätherisch-selbstloser Substanz, das der Erde nur allzu klobige Güter voller Verachtung von sich weist. Dass sich so ein Eminescu durch seine Tage hindurchquält, gar in jungen Jahren stirbt, oh, das ist sehr bedauerlich, aber Hand aufs Herz: Hat es ihm so viel ausgemacht? Er lebte ja schließlich nur für seine Kunst und wir konnten rein gar nichts daran ändern...
Die Dichter selbst werden nie müde, ihrer Zeitgenossen Ignoranz, Borniertheit und Egoismus aufs Heftigste anzuklagen. Eminescu schämte sich seiner Rumänen, Baudelaire wünschte sich anywhere, but out of this world, Kästner wetterte gegen Zeitgenossen haufenweise, Benn zog das Grab ihrer lästigen Gegenwart vor. Und heute, in diesem unseren 21. Jahrhundert, gilt jenes so klarsichtige Van Gogh-Wort, wonach das Geld das ist, was früher das Recht des Stärkeren war, mehr als er sich je vorstellen konnte. Die Zeiten sind prosaisch wie nie. Nur haben, nur konsumieren, nur scheinen – nicht einmal das alte Rom konnte mit so viel Oberflächlichkeit und gefeierter Kurzlebigkeit aufwarten. Oh, schöne neue Welt, verführerischer als eine Salome-Legion. Da muss sich der Ottonormalverbraucher schon wie ein Kreisel drehen, um die Früchte seiner Arbeitswut, ihr zu Füßen zu legen. Keinen Augenblick darf er mehr ruhen, nie zur Besinnung kommen, nie Muße kennen. Wie soll er dann am Poetischen Geschmack finden?

Nein, es ist durchaus kein Wunder, dass zig Verlage Lyrik ausdrücklich nicht in ihrem Programm führen2. Und dass andererseits zig andere, vornehmlich solche, die auf so erfinderischen Gefilden wie die mioritisch3-balkanesischen beheimatet sind, mit dieser Gattung ein nicht nur sehr lukratives, sondern auch risikoloses Geschäft betreiben, indem sie, ganz Krämerseelchen, sogar Werke bekannter Autoren im (Selbst-)Sponsoringmodus herausgeben: Findet sich kein Kulturinstitut oder Ministerium etc., um die Veröffentlichung zu finanzieren, zahlt der Autor aus der eigenen Tasche. Und der Verlag verdient, ohne einen Cent (bzw. Leu) investiert zu haben. Autoren sind eben eitle Wesen, um ihren Namen auf einen Buchdeckel gedruckt zu sehen, nehmen sie alles Mögliche hin und mucksen nicht. Es ist, als hielte sie ein Omertà-Bann in Schach. Warum sie also nicht schröpfen? Zumal in der Person des ignoranten Lesers der perfekte Sündenbock bereitsteht, dem alle Schuld für dieses miese Verlegerverhalten aufgebürdet werden kann: Wenn er sich nicht mehr mit Lyrik befassen, wenn er nicht mehr lesen will! Dass auch der kultivierteste Leser lyrische Werke nicht lesen kann, wenn diese nirgendwo vertrieben werden, das kehren die cleveren Verlegerkrämerseelchen wohlweislich unter den Teppich.
(...)
Einst waren Dichter noch Denker. Lyrik besagte daher noch etwas, sie drückte Authentischstes, Wesentlichstes aus, schärfte den Blick für Nuance und Tiefe, legte Verschüttetes wieder frei. Deshalb konnte sie noch berühren und aus jedem noch so prosaischen Alltag herausreißen. Man überließ sich ihr gerne. Heute jedoch ist sie bestenfalls Spiel, in der Regel jedoch nur sinnentleertes Stammeln, Spitzfindigkeit für verwirrte Snobs: Scharlatanerie. Die Dichter betreiben selbstvergessen autistischste Nabelschau, die sie (in der Hoffnung endlich aufzufallen und einen substanziellen Preis zu gewinnen) mit dick aufgetragener Obszönität würzen.
So mancher Literaturpapst hat hierzu seinen traurigen Beitrag geleistet, indem er sich an Wortkunst, an Sätzen, an aus den Fingern gesaugten Metaphern und ultimativ ausgefallenen Bildern ergötzte. So wurde das Unverständliche, schändlich Verklausurierende (oh ja, es ist schändlich, weil es den Leser verachtet!) zum einzig nachahmungswürdigen Ideal erhoben. Ideen, Inhalt, Sinn? Großer Gott, man ist doch nicht mehr – 19tes Jahrhundert! Damals konnte einer wie Eminescu noch monieren, dass Bilder, die keine Ideen kleiden, nur sinnlose Farbkleckserei seien. Aber jetzt? Jetzt entlocken solcherlei Einwände höchstens ein müdes Lächeln. Der Geschmack ist postmodern geworden. Mit düsterer Miene pflegt er an Neuartigem, beispielsweise esoterischem Voyeurismus mit fremden Assoziationen zu knabbern. Das ist wahrlich keine leichte Kost, ach, ach, man muß es schon gestehen: sie erfüllt einen nur mit Leere und Langeweile – und zwar ausgiebigst. Aber was soll man tun, man hat sich weiterentwickelt, Fortschritt hat nun einmal seinen Preis...
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Leben, Realität, Wirklichkeit – es ist nämlich überhaupt kein Zufall, dass Künstler hierin den Urgrund ihres Schaffens sehen. Denn Lyrik, Kunst überhaupt, trägt die Essenz6 des Lebens in sich. Sie beugt sich über die kleinen, intimen Dinge des Lebens, eine Sonnenblume, zum Beispiel, oder einen alten Kellner, oder den Sommerkleid der Geliebten, durchleuchtet sie von allen Seiten, hält sie über den Abgrund7, nimmt ihre Zerbrechlichkeit, ihre Vergänglichkeit, ihre Tragik wahr. Denn alles ist verurteilt. Und jeder. Wir wollen das nicht wahrhaben, wie Sträuße stecken wir den Kopf in den Sand und pochen darauf, uns unsterblich wähnen zu dürfen. Was sind wir doch für arme Narren. Dem mit Bewusstsein ausgestatteten Tier Mensch geziemt aber als Lebenssinn, nein, weder Gier noch Ruhm noch Macht, sondern – Erkenntnis und zwar jene, vor deren Hintergrund jede Mühsal im Dienste unserer atavistischen Prägungen hinfällig wird. Sage mir, was du gelebt, gelitten und erkannt hast, sage mir, wie viel Wahrheit du erträgst8, und ich sage dir, wessen Geisteskind du bist. Nun, Lyrik liefert diese Erkenntnis. Darin liegt ihre Größe. Und ihre Unentbehrlichkeit. 
(...) 

1Mihai Eminescu (1850-1889), wichtigster rumänischer Dichter.
2Über die Massenware, die sie sonst unter der Überschrift Literatur anbieten, will ich mich hier nicht auslassen. Andererseits möchte ich jetzt schon darauf hinweisen, dass so mancher Prosatext reine Lyrik sein kann.
3Der mioritische Raum, Essay des Dichters und Philosophen Lucian Blaga (1895-1961), in dem er das den Rumänen spezifische Raumgefühl beschreibt.
6Hier bemühe ich wieder Van Gogh.
7Gottfried Benn, Brief an F.W. Oelze, 20.03.1938
8Friedrich Nietzsche

                Ioana Orleanu                
                Auszug aus dem Nachwort der mehrsprachigen Anthologie Intimität /Intimitate, Hamburg, 2015

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